Am Freitag, dem 17. Februar 2023 ab 12.45 Uhr verlegt der Künstler Gunter Demnig fünf Stolpersteine für die Familie Driesen und Lewin in der Hackerstraße 22, 12163 Berlin. Angehörige aus Israel und Brandenburg reisen an, um die Gedenkstunde für Dorothea Lewin und Selma, Sally, Paul und Hans Philipp Driesen mitzuerleben. Die Kantorin Avitall Gerstetter wird das Kaddisch singen. Die Initiative zu dieser Verlegung geht auf die heutige Bewohnerin des Steglitzer Wohnhauses, Gundula Oertel zurück, die vor einigen Jahren eine unterwartete persönliche Begegnung mit Angehörigen der Familie hatte.
Die Geschichte beginnt im Sommer 2005, als Gundula Oertel eine Gruppe Menschen vor ihrem Haus bemerkt, die zu den Fenstern hinaufsieht. Es stellt sich heraus, dass Nachfahren der Familie Driesen und Lewin auf der Suche nach der letzten Wohnadresse ihrer Angehörigen sind. Zum ersten Mal erfährt Gundula Oertel von der jüdischen Berliner Familie, die zwischen zwei Weltkriegen zu den Bewohnern des Hauses Hackerstraße 22 gehörte. Jahre später kommt Oertel in Kontakt mit dem Verein Tracing the past und beginnt ihre Recherche der Biographien. „Die Suche nach Familienzusammenhängen, Lebens- und Todesdaten der Familien Lewin und Driesen hat mich an viele Quellen und in unterschiedliche Archive geführt, viele Fragen beantwortet, aber längst nicht alle Lücken geschlossen“, sagt Gundula Oertel. Für sie ist die Verlegung der fünf Stolpersteine ein Meilenstein, aber nicht das Ende ihrer Recherche- und Begegnungstätigkeit.
An der Verlegung nimmt Ori Avigdorov, Enkel des nach Palästina geflüchteten Paul Driesen, mit seiner Ehefrau Smadar Avigdorov und Tochter Shai teil. Die in Wittstock/Dosse lebende Angehörige und Künstlerin Doris Kretschmer wird ihr Kunstwerk zum Thema „Deportation“ präsentieren. Ebenso sind die Gründungsmitglieder des Vereins Tracing the past anwesend.
Die Kosten von 600 Euro (120 € pro Stein) für die Verlegungen der fünf Steine für die Familien Driesen/Lewin sind erst teilweise gedeckt - Spenden daher herzlich willkommen - sei es ein Teilbetrag, genug für einen ganzen Stein oder auch mehr. Wer sich beteiligen kann und möchte, überweise die Spende bitte auf das Treuhand-Konto der Kirchenkreises Steglitz:
Empfänger: KKVB Berlin Süd-West bei der Evangelischen Bank eG
IBAN: DE18 5206 0410 0003 9663 99
BIC GENODEF1EK1
Überweisungszweck:
5 Stolpersteine Steglitz
Recherche und Text: Gundula Oertel
Im 1911 fertig gebauten Haus Hackerstraße 22 sind zu dieser Zeit rund 24 Wohnungen an Privathaushalte vermietet. Eine davon (vermutlich im 2. Obergeschoss links) bewohnt die Familie Driesen. Selma Driesen, geb. Lewin, mit ihrem Ehemann Sally Driesen, den beiden Söhnen Paul und Hans Philipp und Dorothea Lewin, Selmas Schwester.
Sally Driesen betreibt einen China- und Japanwarenhandel, mit Geschäftsräumen in der Charlottenburger Fuggerstraße 19. Selma kümmert sich um den gemeinsamen Haushalt der Familie. Paul macht Abitur am nahen Paulsen-Gymnasium in der Gritznerstraße und studiert anschließend zehn Semester Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Uni). Hans Philipp geht bei der Firma Rosenhain, einem Galanteriewaren-Geschäft in der Leipziger Straße, in die Lehre. Und Dorothea Lewin arbeitet ganz in der Nähe ihres Neffen, in einem Porzellan- und Kristallwaren-Geschäft, ebenfalls in der Leipziger Straße.
Es ist eine von vielen Berliner Familien, die in dieser gutbürgerlichen Nachbarschaft in, wie man so sagt, wohlgeordneten Verhältnissen lebt. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Danach ist nichts mehr in Ordnung für sie. Denn die Driesens und die Lewins sind Juden, womit sie von nun an gnadenlosem Rassenwahn und der Entrechtung und Verfolgung durch die Nazis ausgeliefert sind.
Das betrifft auch ihre Verwandten und Freunde in Berlin, wo auch Selmas und Dorotheas jüngere Schwester Martha wohnt. Und ebenso ihren älteren Bruder, Georg Lewin, der mit seiner Familie in der Stadt Putlitz in Brandenburg lebt und dort ein kleines Uhrmacher-Geschäft betreibt.
Eines Tages steht eine kleine Gruppe Menschen vor meinem Haus und sieht zu den Fenstern hinauf. Eine Nachbarin kommt zufällig dazu, spricht sie an und erfährt, dass sie darüber rätseln, in welcher Wohnung des Hauses ihre Verwandten vor 1942 wohl gewohnt haben könnten. Kurzentschlossen klingelt besagte Nachbarin bei mir und die vier Besucher:innen kommen zu mir herauf. So erfuhr ich zum ersten Mal von der jüdischen Berliner Familie, die zwischen zwei Weltkriegen zu den Bewohnern des Hauses Hackerstraße 22 gehörte. An meinem Tisch saßen damals Nomi Friedler, Alisa Avigdorov mit ihrem Ehemann und Doris Kretschmer. Erstere, wie ich jetzt weiß, die Töchter von Paul Driesen aus Israel, Letztere die Enkeltochter Georg Lewins, die heute in Wittstock/Dosse lebt. Ihr kurzer Besuch hinterließ nachhaltigen Eindruck bei mir, blieb aber ansonsten zunächst folgenlos.
Das sollte sich erst ändern, als mich die Historikerin Dr. Caroline Flick mit Roderick Miller bekannt machte. Beide zählen zu den Gründer:innen von „Tracing the Past“. Dies ist ein gemeinnütziger Verein in Berlin, der 2014 von einer Gruppe von Historikern, Archivaren und Experten aus den Bereichen der Informationsdienste und -technologie gegründet wurde. Er beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Facetten der Geschichte des Holocaust sowie der Provenienzforschung.
Nachdem Roderick Miller mir die Nutzung der Suchmaschine in ihrem Projekt „MAPPING THE LIVES“ erklärt hatte, fand ich dort für meine Adresse zunächst vier Einträge: Sally Driesen, seine Ehefrau Selma Driesen, ihre Schwester Dorothea Lewin sowie den jüngeren der beiden Söhne des Ehepaars, Hans Philipp.
Der Plan, in Zusammenarbeit mit dem Gedenk-Projekt von Gunter Demnig sogenannte „Stolpersteine“ vor unserem Haus verlegen zu lassen, war danach schnell gefasst. Dem folgte allerdings zunächst eine längere Recherchephase, die in diesem Jahr als ein erstes Ergebnis vollständig belegte Daten für Inschriften auf fünf Stolpersteinen an der Adresse Hackerstraße 22 lieferte. Die Suche nach Familienzusammenhängen, Lebens- und Todesdaten der Familien Lewin und Driesen hat mich an viele Quellen und in unterschiedliche Archive geführt, viele Fragen beantwortet, aber längst nicht alle Lücken geschlossen.
Vor allem aber hat mich diese Recherche erneut mit Doris Kretschmer in Kontakt gebracht. Gemeinsam mit ihr und ihren Kontakten zu vielen (räumlich wie familiär) mehr oder weniger entfernten Verwandten in Deutschland, Israel und den USA ist es inzwischen gelungen, mehr über die Herkunft, das Schicksal und das Leben von weit mehr als den fünf zuerst genannten Familienmitgliedern zu erfahren. Und unsere gemeinsame Forschung dauert an.
Gundula Oertel, Telefon 030 857 29 803
Dorothea Lewin kam am 7.12.1891 in Rogozno, Oborniki, Großpolen zur Welt.
Sie wurde am 3.2.1943 mit dem 28. Transport von Berlin (Putlitzbrücke) nach Auschwitz Birkenau deportiert und dort vor dem 8.5.1945 ermordet.
Selma Driesen, geb. Lewin, kam am 21.3.1888 in Rogozno, Oborniki, Großpolen zur Welt. Sie wurde am 12.3.1943 mit dem 36. Transport von Berlin (Putlitzbrücke) aus nach Auschwitz Birkenau deportiert und dort vor dem 8.5.1945 ermordet.
Sally Driesen wurde am 26.3.1887 in Berlin geboren und heiratete Selma Lewin 1909 in Berlin. Er starb am 4.4.1940 in Berlin in der Bavariaklinik in der Münchener Straße, laut Totenschein an Herzschwäche nach einer Blinddarmoperation. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee im Feld N, Abt. V, Reihe 13 Mauer, Grab-Nr. 102907 beerdigt.
Paul Driesen wurde am 2.11.1909 als erster Sohn von Selma und Sally Driesen in Berlin geboren, studierte Medizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er am 31.7.1933 als „Nichtarier“ zwangsexmatrikuliert worden ist. Danach folgte seine Emigration nach Palästina, die unter dem Druck der Verhältnisse wohl richtiger Flucht heißen muss.
Die Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft e.V. in Tel Aviv teilt dazu noch dies aus dem „Buch der Jeckes“ mit: Paul ist als 24-Jähriger 1933 offiziell eingewandert und war anschließend mit dem Wohnort Haifa registriert. Er hatte zwei Töchter, Alisa und Nomi, und ist 1967 mit nur 58 Jahren in Israel gestorben.
Hans Philipp Driesen wurde am 10.11.1913 als zweiter Sohn von Selma und Sally Driesen in Berlin geboren, arbeitete bei der Fa. Rosenhain, bis die Nazis 1936 den Besitzerwechsel der Firma erzwangen und ist im Alter von 27 Jahren Ende 1939 ebenfalls nach Palästina geflüchtet. Dort wurde er am 29.1.1940 von den Briten als illegaler Einwanderer festgenommen und in das Lager Atlith deportiert. Hans Philipp Driesen starb 1982, wie sein Bruder in Israel. Er hatte einen Sohn, Gideon.
ADRESSE c/o Ev. Lukas-Kirchengemeinde, Friedrichsruher Straße 6, 12167 Berlin VORSITZ Pfarrerin Andrea Köppen, E-Mail
SPENDEN KKVB Berlin Süd-West | Evangelischen Bank eG | DE18 5206 0410 0003 9663 99 | BIC GENODEF1EK1 | "Stolpersteine Steglitz"
Stolpersteine sind Wind und Wetter ausgesetzt und müssen in regelmäßigen Abständen gereinigt werden, da die Messingoberfläche unter feuchten Wetterbedingungen oxydiert.
Wenn Sie einen STOLPERSTEIN putzen und somit die Erinnerung blank polieren möchten, lesen Sie bitte vorher diese Anleitung.