10.06.2024. "In Kasachstan werden Nomaden geboren", sagt Anna Bökenkamp. Und damit kann man etwas anfangen, wenn man ihre Geschichte hört: geboren in Kasachstan, Kita in Sotschi, sieben Schuljahre in Omsk, Umsiedlung nach Deutschland, restliche Schulzeit in Ahlen/Westfalen, Ausbildung als Restaurantfachkraft im Steigenberger an der Düsseldorfer Kö, dort auch das Studium der Sozialarbeit und das ist noch längst nicht alles. Die 14 Jahre, die sie inzwischen in Woltersdorf lebt, seien die längste Zeit an einem Ort, sagt sie. Die letzten sechs Jahre davon war Anna Bökenkamp Fachberaterin für die 17 Kitas im Kirchenkreis Steglitz. Zum Juli beendet sie ihren Dienst im Südwesten Berlins und schlägt ihr Zelt an einem anderen Ort wieder auf.
Über 20 Jahre ist sie mittlerweile in verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Erfahrungen hat sie also, und zwar verschiedenster Art, wie die, sich von klein auf in unterschiedlichen Systemen zu bewegen, dem russischen in Kita und Schule und dem deutschen in der Familie.
Nach ihrem Anerkennungsjahr in der Kinder- und Jugendarbeit einer evangelischen Kirchengemeinde in Ratingen arbeitete Anna Bökenkamp in einem internationalen Kindergarten mit 16 Nationen nach britischem System. Auf diese Weise wurde die frühkindliche Bildung zu ihrem Fokus.
Ihre Tätigkeit in verschiedenen Organisationen hat über die Jahre eine Frage in Anna Bökenkamp aufgeworfen, die sie nicht losließ: Wie konnte es sein, dass Menschen Zeit und Herzblut in den Aufbau von sozialen Initiativen und Vereinen investierten und es dennoch zu teils unlösbaren Konflikten kommt? Konflikte, die auch mit Supervision und Coaching nicht ausgeräumt werden können? Dieser Frage musste sie einfach nachgehen und entschied sich für ein berufsbegleitendes Studium der Systemischen Organisationsentwicklung. Parallel arbeitete sie in der Kinder- und Jugendhilfe der Arbeiterwohlfahrt in Strausberg mit den Schwerpunkten Familienberatung und Bedarfsklärung. Nach Abschluss des Masters wollte sie nun kleine soziale Unternehmen beraten – da kam ihr die Ausschreibung des Kirchenkreises Steglitz gerade recht: Beratung von Kita-Leitungen, Trägern und kreiskirchlichen Gremien – kleinen Einheiten also, das war es doch, was sie suchte. Als ihr beim Vorstellungsgespräch keine pädagogische Aufgabe, sondern eine zur Organisationsentwicklung gestellt wurde, wusste sie, dass sie richtig war.
„Ich habe sehr gute Erfahrungen mit der Gemeindeleitung während meines Anerkennungsjahres gemacht und freute mich, für die Kirche zu arbeiten“, erzählt sie. Aus ihrer Erfahrung in sozialen Unternehmen wusste sie, dass die Strukturen nicht so eindeutig sein würden. Dass ihre Hauptaufgabe sein würde, Klarheit in die Abläufe und Zuständigkeiten rund um das Kita-Management zu bringen, wurde ihr nach und nach bewusst. 17 Kindertageseinrichtungen mit engagierten und erfahrenen Leitungen fand sie in Steglitz vor. Das Diakonische Werk sowie 13 Gemeindekirchenräte als Träger mit Gesamtverantwortung für die Kitas. Und ein System, das die Existenz aller Kitas durch einen finanziellen Solidarausgleich sicherte und kitaübergreifende Lösungen für große Themen wie Personalmanagement und Qualitätssicherung bot. Ein System, das sie nun mit der Kita-AG leiten und weiterentwickeln würde. „Um die Zusammenhänge und das Zusammenwirken der unterschiedlichen Akteure zu verstehen, hatte ich genau eineinhalb Jahre Zeit - bis zum ersten Lockdown am 13. März 2020“, sagt Anna Bökenkamp.
Den Kinderschutz hatte sie eigentlich voranbringen wollen. Außerdem sollten die Gemeindeleitungen für ihre Verantwortung in der Kita-Geschäftsführung sensibilisiert und die Aufgaben der Träger gegenüber denen der Leitungen abgegrenzt werden. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur hatte glücklicherweise schon begonnen und konnte optimiert werden, denn nun fanden die zahlreichen Treffen online statt. Die außergewöhnlichen Leistungen der Kita-Mitarbeitenden während der Corona-Zeit, die sie trotz eigener Belastungen in ihren Familien erbracht hatten, wollte Anna Bökenkamp gewürdigt sehen. Besonders in Erinnerung bleibt der große Dankeschön-Tag mit über 200 Kita-Mitarbeitenden im Paulus-Zentrum. In 26 Workshops unter Pandemie-Bedingungen konnten diese etwas Gutes für sich persönlich und für ihre Arbeit mitnehmen.
Der Kinderschutz ist ihr ganz großes Thema - dafür brennt Anna Bökenkamp. Deswegen zählen die Entwicklungen in diesem Bereich auch zu den Highlights ihrer Steglitzer Jahre. Wenn sie in der AG Kinderschutz hört, dass Erzieher:innen sich gegenseitig Antworten auf Kinderschutz-Fragen geben, macht sie das froh. Zeigt es doch, wie die Sensibilisierung für das Thema die Ebenen durchdrungen hat. Als Organisationsentwicklerin beobachtet sie überhaupt immer die Basis und überlegt, was im System angestoßen werden sollte, damit es sich in der Praxis positiv auswirkt. Die Arbeitsbeziehung sei die Grundlage, um von außen kommende Anforderungen zu erfüllen, sagt sie. Und besonders in kirchlichen Arbeitsstrukturen sei Verbindlichkeit sehr von Personen abhängig. Also müsse man herausfinden, was der einzelne Mensch brauche, um mitgehen zu können.
Die Kitas in Steglitz seien auf einem qualitativ sehr hohen Niveau, erklärt Anna Bökenkamp, gutes Personal, gute Atmosphäre in den Teams. Die Grundlage dafür bilde das seit 27 Jahren bestehende Kita-Solidarsystem, das von vielen Menschen mit hohem persönlichen Einsatz aufgebaut wurde. „Das ist ein großer Verdienst“, betont sie. Die Verantwortung der Kommenden sei es, sensibel mit dieser Leistung umzugehen. Stetig steigende Anforderungen an die Kita-Träger hatten derweil einen Anpassungsprozess erfordert, den Anna Bökenkamp angestoßen hat. Allerdings sei sie auch an die Grenzen des Systems gestoßen, sagt sie. Deswegen stünden jetzt Veränderungen an, das Zeitfenster dafür müsse genutzt werden. Für sie, die immer irgendwo etwas aufbauen will, heißt es dafür, die Zelte abzubrechen und ihre Wanderschaft fortzusetzen.
Bleibt die Frage nach den geheimen Wirkkräften in Organisationen, die Anna Bökenkamp im Studium ergründen wollte. Sie erklärt die Antwort, die sie gefunden hat: „Der Gründergeist ist es, der die Kultur und Struktur einer Organisation prägt“, sagt sie. Diese seien unsichtbar, würden aber fortwirken und überlebten das Kommen und Gehen jedes Personals.1 Außer eine Führungsperson erkenne eine Fehlstelle und würde intervenieren. „Nachhaltige Änderungen in der Organisationskultur können in erster Linie durch die Führungsperson herbeigeführt werden“, sagt Bökenkamp. Dies zu lernen und zu erkennen, sei besonders lehrreich für sie gewesen.
Ab dem 1. Juli übernimmt Anna Bökenkamp die Leitung des Jugendamtes Märkisch-Oderland mit 139 Mitarbeitenden und Dienstsitz in Strausberg. Kinderschutz und Inklusion werden auch dort die erste Priorität in Kitas und anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe haben. Die Umsetzung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes werde mit der schwierigen Fachkräftesituation eine große Herausforderung werden, sagt sie. Aber sie freue sich darauf, denn nun könne sie wieder an anderem Ort Aufbauarbeit leisten und ihr Wissen über Organisationen vertiefen.
ubo
1 Denn „sobald die Kommunikationsstruktur in einer Organisation entstanden ist, überlebt sie sowohl Mitgliederwechsel als auch Zweckveränderungen und existiert weiterhin „auf der Suche nach passenden Problemen“ (Schlippe, Schweitzer 2013).